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Titel
Paradox Schweiz. Church, Clive H.; Head, Randolph C.


Autor(en)
Church, Clive H.; Head, Randolph C.
Erschienen
Zürich 2021: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
309 S.
von
Sozialwissentschaft.; Georg Kreis, Europainstitut der Universität Basel

Eine weitere Schweizer Geschichte! Das wirft die Frage auf, was sie Neues zu bieten hat. In ihrer ursprünglichen Version hatte sie tatsächlich sehr Wichtiges zu bieten: eine kenntnisreiche Schweizer Geschichte für ein englischsprachiges Publikum. Nun liegt sie, von Peter Jäger besorgt, in deutscher Übersetzung vor. Ihre beiden Autoren, der eine im englischen Kent, der andere im kalifornischen Riverside domiziliert, sind mit der Schweiz und ihrer Geschichte seit längerem bestens vertraute Fachleute und habe auch eigene Forschungsbeiträge zur Schweizer Geschichte publiziert. Das ohne explizite Zuordnung der jeweiligen Autorenschaft auskommende Werk bildet eine Einheit. Die Kapitel zu den früheren Perioden dürften eher von Head aufgesetzt, die Kapitel zur jüngeren Zeit eher von Church entworfen worden sein. In der Schweiz kann die deutschsprachige Ausgabe manchen Lesern und Leserinnen nicht nur das vielleicht Bekannte aus der älteren Geschichte, sondern auch das bereits wieder Vergessene der letzten drei Jahrzehnte gewinnbringend in Erinnerung rufen. Diese Geschichte der Schweiz führt uns bis an die eidgenössischen Wahlen von 2019.

Was allenfalls neu sein soll, wird im Untertitel des Buches angekündigt: Es handelt sich um eine «Aussensicht». Und worin die zentrale Eigenheit der Schweiz gesehen wird, vermittelt der Haupttitel mit der Bezeichnung «paradox». Was aber erscheint widersprüchlich an diesem Land, an seiner Geschichte? Explizit wird das nirgends festgehalten, aber gemeint sein könnte damit etwa, was als Oszillieren zwischen Engagement und Rückzug, zwischen Erneuerung und ausgeprägtem Konservativismus bezeichnet wird (zum Beispiel S. 278). Die Aussensicht sorgt dafür, dass häufiger als in helvetischen Selbstbeschreibungen auch der europäische Kontext mindestens angedeutet wird. Ein Interesse gilt der Frage, wie aus archaischen Strukturen «letztlich» eine moderne Schweiz hervorging. Man erhält dazu eine dichte Erzählung, aber keine konzise Antwort auf diese schöne Frage, und eine solche kann es wohl auch schwerlich geben.

Die Darstellung kommt ohne ausformulierte Leitidee aus, ihr ist aber die wiederkehrende Feststellung wichtig, dass die gemeinsame Geschichte oder ein gemeinsames Geschichtsbild ein tragendes Element der nationalen Identität ist. Die mit «Making the Swiss» immer noch nicht nur sprachlich, sondern in diesem Fall auch mental angelsächsisch daherkommende Einleitung hält fest: Ihre «Geschichte (womit sowohl die gemeinsamen Narrative als auch die lange durch Fakten verbürgte politische Vergangenheit gemeint ist) war stets Garant dafür, dass eine Schweiz mit erkennbarer Eigenart alle europäischen Katastrophen überdauerte und in gewandelter Form erhalten blieb» (S. 10). Ein zivilgesellschaftlicher Nationalismus habe trotz oder wegen des Fehlens sprachlicher und konfessioneller Gemeinsamkeiten seinen Fokus auf die historischen Wurzeln und die lange Tradition mit gemeinsamen konstitutionellen Regeln und Verfahren einen nationalen Zusammenhalt geschaffen (S. 180).

Stark beachtet werden die konfessionellen Differenzen, von denen es heisst, dass sie beinahe zum Auseinanderbrechen der Eidgenossenschaft geführt hätten. Dass dies nicht eintrat, wird mit dem Desinteresse der umgebenden Mächte sowie damit erklärt, dass die kollektiven Eigeninteressen der Eliten die religiösen Gräben überbrückten (S. 106). Konkret zeigte sich das in den so genannten Bauernkriegen, in denen sowohl Aufständische auf der einen Seite als auch die infrage gestellten Obrigkeiten auf der anderen Seite je überkonfessionell kooperierten (S. 95). Die Durchmischung in kleinem Raum und die damit verbundene sehr unmittelbare Erfahrung im Umgang mit Andersgläubigen könnten zudem eine praktische Koexistenz eher möglich gemacht haben (S. 92). Selbstverständlich wird auch die Legende der Kappeler Milchsuppe in die Erzählung eingebaut (S. 86).

Das Buch folgt der üblichen Epocheneinteilung, ohne diese zu diskutieren. Es nimmt darum in seinen Ausführungen zur Helvetik (S. 132) auch nicht den von André Holenstein im neuen Handbuch zur Schweizer Geschichte (2014) unterbreiteten Vorschlag auf, die Helvetik eher zur vorangegangenen Epoche des Ancien Régime und nicht zur neuen Zeit des 19. Jahrhunderts zu zählen. Die in der Schilderung der frühen Entwicklungen zunächst nur wenig berücksichtigten wirtschaftlichen Gegebenheiten werden für die Jahre 1500–1700 in einem separaten Kapitel unter dem Titel «materielle Welt» treffend dargelegt. In den weiteren Ausführungen erfährt diese Welt dann auch innerhalb der Schilderungen der weiteren Entwicklungen eine immer stärkere Beachtung, was die Frage aufwirft, ob denn «Wirtschaft» mit der Zeit stets wichtiger wird. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird die Schweiz sogar zur «Industrienation» (S. 177). Offen bleibt allerdings, wie sehr wirtschaftliche Prosperität oder Rückbildung bloss Folge politischer Gegebenheiten sind oder diese umgekehrt in hohem Mass bestimmende Voraussetzungen für das Politische sind. Es fällt auf, und das ist nicht Kritik, sondern eine Beobachtung, die zu weiteren Überlegungen führen könnte, dass in der Frühzeit – wohl aus Mangel an sprechenden Quellen – nicht die gesamte Fülle des gesellschaftlichen Lebens dieses Landes in Erscheinung tritt und sich die Erzählung zunächst auf oberschichtliche Vorgänge beschränkt, und der grosse Rest der Gesellschaft erst mit dem Gang durch die Jahrhunderte immer präsenter wird. In der Präsentation der Vorgänge bis ins 16. Jahrhundert dominieren die Ausführungen zur territorialen Entwicklung. Der Binnenentwicklung des politischen Systems wird nicht in gleicher Weise Beachtung geschenkt, immerhin wird aufgezeigt, dass die Schaffung der Tagsatzung von eminenter Bedeutung war (S. 51 f.).

Die Autoren absolvieren das ganze und den einheimischen Lesern und Leserinnen weitgehend vertraute Programm – bis hin zu Einzelheiten, etwa (S. 68) dem angedeuteten Verrat von Novara von 1500. Die detailreiche Schilderung dessen, was alles geschehen und demzufolge zu berichten ist, lässt keinen Raum für explizite Überlegungen zu übergeordneten Fragen. Zu den Vorbedingungen der Bundesstaatsgründung von 1848 heisst es, dass die «angespannte wirtschaftliche Lage» zwar eine wichtige Rolle gespielt habe, die «konfessionellen Angelegenheiten» jedoch die treibende Kraft in der politischen Auseinandersetzung gewesen seien (S. 154). Die wirtschaftlichen Voraussetzungen, die in den 1860er Jahren zur Demokratischen Bewegung geführt haben, sind jedoch deutlich unterbelichtet (S. 165).

Ausdrücklich gewürdigt sei, auch wenn dies gönnerhaft wirken mag, dass dieser faktenreichen «Aussensicht» keine Fehler unterlaufen. Krud ausgedrückt: Die nichtschweizerischen Autoren wissen enorm viel mehr über dieses Land als die allermeisten seiner Bürger und Bürgerinnen (Historiker und Historikerinnen eingeschlossen). Eine Korrektur muss hingegen angebracht werden: Nach der an sich bereits problematischen, weil zwei separate Politikbereich vermengenden Feststellung, die Flüchtlingspolitik der 1930er Jahre habe die Neutralität kompromittiert, vermittelt die Darstellung in der nicht unwichtigen Frage, wer 1938 für die Einführung des J-Stempels verantwortlich ist, ein widersprüchliches Bild: In der Chronologie heisst es zutreffend, dass dies «auf Wunsch» der Schweiz geschehen sei (S. 288), im Lauftext steht hingehen, Heinrich Rothmund sei «auf den Vorschlag» des NS-Regimes eingegangen (S. 204). Diese Personalie ist insofern von Bedeutung, als dass die 1997 gemachte «Entdeckung», dass Rothmund (im Gegensatz zu seinen Mitarbeitern) kein Befürworter des J-Stempels war, von einer nationalistischen Publizistik genutzt wurde, jegliche Mitverantwortung seitens der Schweiz zu bestreiten (203 f.).

Es ist der Aufmerksamkeit gegenüber der Kraft mythischer Bilder und wohl auch der Aussensicht eigenen Perspektive zuzuschreiben, dass Wilhelm Tell einen prominenten Platz in dieser Darstellung erhält. Allein in der Einleitung ist fünf Mal von ihm die Rede. Immerhin hat der Verfasser dieser Rezension dank dieser starken Ausrichtung auf Tell auch erfahren, was er vorher nicht wusste, dass der Geschichtsschreiber Johannes von Müller nach 1805 in seiner Schweizer Geschichte Tell nachträglich mehr Platz eingeräumt haben soll, nachdem diese Figur durch Schillers Drama populärer geworden war (S. 140). Das Narrativ greift recht oft und schnell nach der Kategorie der kulturellen und politischen, manchmal auch der gefühlten Identität des Landes, wie dies eine landesinterne kritische Geschichtsschreibung weniger als gegeben annimmt.

Die Darstellung verzichtet auf weiterführende Hinweise, und die Bibliografie beschränkt sich, was in einer deutschsprachigen Ausgabe etwas sonderbar wirkt, auf die nur in sehr beschränktem Mass vorhandene angelsächsische Literatur. Manches von dem, was referiert wird, muss aus in dieser Publikation nicht aufgeführter Literatur stammen. Die 36 schwarz-weiss-Abbildungen sind eine echte Bereicherung und werden mit substanziellen Kommentaren erläutert.

Zitierweise:
Kreis, Georg: Rezension zu: Church, Clive H.; Randolph C., Head: Paradox Schweiz. Eine Aussensicht auf ihre Geschichte, Zürich 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (1), 2022, S. 143-145. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00102>.

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